Liebesduett für Sprache und Gesang
Uraufführung: November 2000Regie: Claudia Riese
Idee und Dramaturgie: Heinz Koch
Wolf: Heinz Koch
die Frau (Gesang): Carolin Gutting / Claudia Riese
Musik: Tobias Wahren (Auftrags-Arbeit)
Der Autor (Wolf Wondratschek) lässt in seltener Offenheit Einblick in die Männerseele zu. Eigentlich ein Text für die Intimität des Lesens, das ja subversiv ist, andere ausschließt, eine Sache zwischen Autor(in) und Leser(in) ist. Wenn wir das Werk dennoch öffentlich lesen, dann nicht, um es aufzuführen. Es wird versucht, so untheatralisch wie möglich zu sein - und so weiter.
Bei einem Treffen im Café Eiles in Wien konnten wir Wondratschek davon überzeugen, dass wir eine Idee für seine "Kelly-Briefe" haben. Ein Mann, gesprochen von Heinz Koch, und eine Frau, bei der Premiere Carolin Gutting, jetzt aber Claudia Riese, tauschen Briefe aus, eine Liebesgeschichte, die, wie immer, vielfältig, spannungsreich, gebrochen, und sehnsuchtsvoll ist. Die Liebe findet wohl statt, leidenschaftlich und unaufschiebbar vom Verlangen der Frau - bezweifelt und distanziert wohl als "eine Sache ohne Wahrheit" von Seiten des unschlüssigen Mannes.
Wolf Reiser interviewt Wolf Wondratschek
Zu den "Kelly-Briefen":
Von Helmut Eisendle Eine Frau und ein Mann schreiben Briefe. Nicht weil sie voneinander weit entfernt leben. Nein, es handelt eher davon, sich die An-nehmlichkeit der Einsamkeit zu sichern, ohne deren Schrecken über sich ergehen zu lassen. Das Problem der Zweisamkeit. Es löst sich von selbst, könnte man nach der Lektüre dieser Briefe meinen, wenn die Liebe gleichzeitig Abwesenheit und Anwesenheit ist. Fast lässt sich vermuten, dass das ganze Ausmaß der körperlichen und seelischen Freiheit, die ein Mann und vielleicht eine Frau ebenso braucht, sich im Leben zu zweit findet, das sich in Briefen äußert. "Kelly - Briefe" ist in mehrfacher Hinsicht eine Liebeserklärung: einerseits tatsächlich an die Frau, der W. antwortet; andererseits an die Sprache - auch oder vor allem die Sprache der Liebe, die des Aus- und Einredens, des Alters, des Hin- und Darstellens, des Zustandes, in den die Liebe die Menschen zu bringen imstande ist, und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an das Denken über etwas und die Literatur selbst. Damit die Liebe - und es handelt davon - eine Art Wunder bleibt, darf sich der Gegensatz zwischen denen, die einander und auch sich lieben, nur einen Augenblick verwischen. All die Leidenschaft der Vereinigung muß am Rande eines Abgrunds von Gleichgültigkeit, einer zärtlichen Gleichgültigkeit geschehen, über die sich sowohl der Mann als auch die Frau schwingen könnte, doch aber mit dem eigenartigen Flug eines Schmetterlings, der immer abzustürzen droht; ebensowenig geschaffen wie der Mensch, der denkt, dass er Liebe für Ergebenheit hielte. |

Foto aus der Süddeutschen Zeitung vom 27. August 2018, Bildunterschrift: Bei einer Ausstellung in Berlin bot Wondratschek zuletzt Gedicht-Unikate à 10 000 Euro feil. (Foto: Regina Schmeken)
Zu Wolf Wondratschek: "Ich war schon damals romantisch, / saß im Wald. hasste alle Blumen / und wollte Dichter werden / aber daraus wurde nichts." Aus Wolf Wondratschek ist auch kein Dichter geworden, sondern ein Schriftsteller, der Gedichte schreibt, wie er gerne präzisiert. "Auffallend ist, dass ich erst als Erwachsener anfing, Gedichte zu schreiben. Damals waren Einakter das Tagesgespräch, das absurde Theater. Und unbedingt wollte ich auch nur für das Theater schreiben. Gottlob ist von all meinen Versuchen nichts erhalten geblieben. Ich erinnere mich allerdings an einen heftigen Skandal in der Familie, als meine Eltern eines meiner Machwerke fanden. Diesem Erlebnis verdanke ich bis heute etwas Entscheidendes: meinen Glauben an die Wirksamkeit von Geschriebenem." Geboren wurde Wondratschek 1943 in Rudolstadt in Thüringen, er wuchs in Karlsruhe auf, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt, brach dann das Studium ab und begann 1967, Hörspiele, Prosa und Gedichte zu veröffentlichen. Die Gedichtbände der siebziger Jahre brachte nicht ein Verlag heraus, sondern der Versand "Zweitausendeins". Der Autor war sein eigener Verleger. Mittlerweile haben seine Gedichte die Auflage von 150.000 Exemplaren überschritten. Wolf Wondratschek arbeitete auch an Filmdrehbüchern mit, bekleidete Anfang der siebziger Jahre eine Gastdozentur für Poetik an der Universität Warwick und ging auf Vortragsreise durch US-amerikanische Universitätsstädte. Um 1980 hielt er sich für Recherchen im Auftrag verschiedener Zeitschriften in Mexiko und den USA auf. Wolf Wondratschek über sich als Schriftsteller: "Ich beendete diese Karriere, indem ich blieb, der ich war. 'Vom Pop-Genie zum Klassiker' schrieb eine Zeitung. Daran hätte ich nichts auszusetzen, solange es nicht voraussetzt, ich sei tot." Quelle: Diogenes Autoren Album |

Auszüge aus verschiedenen Briefen einer inzwischen verstorbenen Freundin, die dem Theater Neu-Ulm über ein Jahr lang geschrieben hatte: "Nun habe ich mich, zumindest für eine lange Zeit, nach 'Psychatrien' zurückgezogen. Dem Land der Ent-rückten und Ver-rückten. Hier werden die Drogen (Glückspillen) staatlich kontrolliert vergeben, und die Bewohner leben in harmonischem Wahnsinn sehr solidarisch zusammen. Teilen Kaffee und Zigaretten. Von so einer Solidarität können die Sozialdemokraten nur träumen. Und von der Menschlichkeit auch. Irren ist menschlich, und Irre sind menschlich." "Mit viel Phantasie ist es mir gelungen, in dem ersten halben Jahr, das Leben im Irrenhaus schwärmerisch zu verkleiden und mich wie im Reservat oder auf einer Insel zu fühlen. Die Wahrheit ist, dass die Psychiatrie ein Aufenthaltsort von gebrochenen Menschen ist, die nicht die nötige Liebe im Leben gefunden haben und heimatlos geblieben sind." "Ich weiß nicht, wie lange ich den geballten Wahnsinn um mich herum noch aushalte. Es ist, glaube ich, auch ansteckend. Es ist eine eigene Welt und für Außenstehende sicher befremdlich und vielleicht sogar beängstigend. Es ist jedoch völlig ungefährlich. Die Menschen sind hier nur offener, gierig nach Liebe, und sie zeigen es ungeschminkter." "Es ist sehr schwer, sich schnell und sicher
zu töten, und im Irrenhaus schier gar nicht möglich.
Obwohl sich die Hälfte der Belegschaft mit dem Gedanken trägt.
Es gibt einen Zwang zum Leben, auch wenn es nur noch Qual und
Siechtum ist. |

URAUFFÜHRUNG / Wolf Wondratscheks "Kelly-Briefe. Eine Sache ohne Wahrheit'' im Theater Neu-Ulm Antworten für einen AusharrendenHeinz Koch und Carolin Gutting machen die verwirrenden Texte an drei Spielorten erlebbar Ein Mann entzieht sich, um Distanz zu bekommen. Dabei schreibt er Briefe an Kelly, seine Geliebte. Im Theater Neu-Ulm liest Heinz Koch die ¸¸Kelly-Briefe'' von Wolf Wondratschek auf drei verschiedenen Bühnen. Eine Verführung ins Entrückte. CHRISTINA MAYER Ein Mann steht kurz davor durchzudrehen. Alles scheint ihm zu sehr auf den Leib zu rücken und auf den Geist zu gehen: die Menschen, die Liebe, die Ordnung, die Geschichten. Er befindet sich in New York. In ihm schreit alles nach Distanz statt Nähe. In dem hektischen Großstadt-Moloch wird dem Getriebenen sein Dahintreiben immer klarer, und der Mann zieht, "vollgepumpt mit Selbstekel'', die Notbremse. Er landet, ein Wahnsinniger ohne Wahnsinn, in der Irrenanstalt. Seines Willens beraubt, geht es ihm dort besser. Der Lyriker und Schriftsteller Wolf Wondratschek
hat 1998 die "Kelly-Briefe'' geschrieben, aus denen Heinz
Koch im Theater Neu-Ulm liest. Es sind verwirrende Briefe, die
alles offen lassen. Es ist sogar unklar, ob sich der Mann die
Briefe nicht selbst schreibt. Aber in diesen Briefen findet eine
Entwicklung statt. Durch den Heinz Koch liest die Briefe scheinbar unberührt,
gefühlsneutral, gelegentlich die Stirnfalten massierend.
Die Bühne ist leer, eine Schreibmaschine das einzige Requisit.
Nach dem vierten Brief wechseln die Zuschauer die Örtlichkeit.
Man befindet sich jetzt hinter der Bühne. Dort ist es unbequem
und eng. Es herrscht Von einer nicht einsehbaren Galerie kommen Geräusche und Stimmen. Die Sängerin Carolin Gutting ächzt, wispert und singt zu Musikbruchstücken. Es sind Antworten für einen, der im Leben ausharrt. Der dritte Teil der Inszenierung (Regie Claudia Riese) findet im Theaterfoyer statt. Der Mann hat die Anstalt verlassen und befindet sich in Kalifornien. Er möchte Kelly finden. Doch als er sich ihr wieder nähern kann, entschwindet sie ihm. Heinz Koch liest die Kelly-Briefe diffus, nicht ernsthaft bedrohlich, aber unruhig machend. Unterhaltsam ist die Aufführung nicht, leicht und griffig auch nicht. In den Texten verschwimmen die Grenzen zwischen der Inszenierung eines Lebens und dem Leben selbst. So gesehen ist das Ganze wieder ziemlich real. Und ernst. Südwest Presse, Mittwoch 22. November 2000 |

Schreiben als TherapieUraufführung der "Kelly-Briefe" im Theater Neu-Ulm _________________________________ Parallel zur "Marlene in Paris" bringt das ehemalige AuGuS-Theater und heutige Theater Neu-Ulm jetzt bereits ein neues Stück auf die Bühne. Mit Wolf Wondratschek spielt das Haus nach Esther Vilar und Pam Gems erneut ein Stück eines zeitgenössischen Autors. Die "Kelly-Briefe" sind vor zwei Jahren als Buch erschienen und dokumentieren die authentische Briefbeziehung des Schriftstellers zu seiner ehemaligen Geliebten. Unter der Regie von Claudia Riese liest Heinz Koch in der Rolle des weltentrückten Poeten zahlreiche selbstverfaßte (Wondratschek-) Briefe. Sie (Kelly) ist mit einem unbegabten Gitarrenlehrer durchgebrannt und pendelt von einer Großstadt zu anderen. Immer wenn sie ihrem Ex schreibt, antwortet er aus New York, wo er selbstzerstörerisch in Erinnerungen wühlt. Natürlich verfasst er keine Liebesbriefe, Frauen sind für ihn nicht unentbehrlich - das gibt er zumindest vor. Die Korrespondenz des Liebespaares scheint sinnlos, er ist zur Ausformulierung von Komplimenten scheinbar nicht fähig. "Deine Pobacken muss der Herrgott eigenhändig poliert haben", ist da schon das Schmeichelhafteste, was ihm einfällt. Mit viel Feingefühl für die Zeilen dazwischen interpretiert Koch die Reflexionen des Autors, der sich einer deutlichen Sprache bedient. Anfangs eher relaxt und leise, wird sein Ton mit der Zeit immer bestimmender. Zu einer abstrakten Geräuschkulisse vom Band singt Carolin Gutting zwischen den Briefen Tonleitern und Melodien. Der geschaffene Klangteppich demonstriert die innere Zerrissenheit, die den heute 57jährigen Autor damals geplagt haben muß. Die Kelly-Briefe sind ein Abgesang auf Big Apple und eine Psychostudie zugleich. Konventionelle Methoden werden dabei zugunsten von innovativen Ideen über Bord geworfen. Bereits nach 15 Minuten erwartet den Besucher ein inszenatorischer Einfall. Soviel sei verraten: Die Leiter des Neu-Ulmer Theaters wissen die neuerworbenen Räumlichkeiten ausgezeichnet - wie meist - zu nutzen. Neu-Ulmer Zeitung, Dienstag, 21. November 2000 |
Wirbel der BilderNEU-ULM - Als Duett in Sprache und Gesang hat Claudia Riese die "Kelly-Briefe" von Wolf Wondratschek im Theater Neu-Ulm inszeniert. _______________________________ Von unserem Mitarbeiter Ralf Heese In seinem 1998 erschienen Buch "Kelly-Briefe" entwirft Wondratschek einen Kosmos privater Erinnerungen und Phantasien mit Blick auf das, was das Geheimnis der Liebe genannt wird. Er tut das in Form von Briefen, lässt einmal den Protagonisten W. zu Wort kommen, dann wieder eine Frau, Kelly genannt, agieren. Die Schwierigkeit des Unterfangens, das Buch angemessen
auf die Bühne zu bringen, dürfte in der Dramatisierung
liegen, im Erfinden eines bei der Umsetzung Spannung erzeugenden
Elementes. Heinz Koch als Dramaturg hat die Form eines Der Charakter einer szenischen Lesung bleibt dabei erhalten, wenngleich auch Ortsveränderungen des Publikums bemüht werden, um zumindest von außen her mit Bewegung zu schaffen. Die Inszenierung nimmt so ihren Anfang im großen Saal, wandert dann ins leicht morbide Ambiente eines seitlichen Treppenaufgangs zur Bühne - was gewissen Sinn macht, da der Protagonist nun aus der Psychiatrie schreibt - und endet - nach einer Pause - im Foyer. "Endlich diese verdammte Geschichte der Liebe schreiben", darum geht es dem Protagonisten: Sie sollte vom Spiel des Zufalls mit dem Schicksal handeln, von den Wundern der Notwendigkeit." Koch, der vom Blatt abliest, unterstreicht seine Worte immer wieder durch Gesten, die deutlich machen, daß es hier auch um die Einsamkeit eines Menschen geht. Sein Spiel gleicht insofern einer aufreißenden Nebelwand, hinter der ein Wirbel aus flackernden Bildern sichtbar wird, wild manchmal, grotesk oder komisch. Schwäbische Zeitung, Freitag, 24. November 2000 |